Sonntag, 31. Mai 2009

Holzen Teil VIII

31. Mai 2009
Neuer Vorwurf auf amerikanischen Internet-Seiten

Kinderheim „Rübezahl“ in Holzen (Landkreis Holzminden) und kein Ende? Die Staatsanwaltschaft Hildesheim hat am 5. Februar 2009 ein Ermittlungsverfahren wegen eines angeblichen Mordes in dieser Einrichtung, die bis 1974 von der Inneren Mission der evangelischen Landeskirche Hannover betrieben worden ist, eingestellt. Begründung des Staatsanwaltes: Der Mordverdacht sei nicht erhärtet worden, alle anderen Straftaten seien verjährt.

Die „vernommenen bzw. befragten ehemaligen Heimkinder“ hätten zwar von „seelischen und körperlichen Misshandlungen“ berichtet, aber „tatsächliche Anhaltspunkte“ für die Ermordung eines Jungen seien nicht gefunden worden. Kronzeugin war ein ehemaliges weibliches Heimkind, das zur vermeintlichen Tatzeit noch so jung war, dass sie diese Mordgeschichte wohl kaum in ihrer Erinnerung gespeichert haben kann. Zudem verweigerte die inzwischen 52-Jährige recherchierenden Journalisten jede weitere Auskunft.

Nun ist auf den Seiten einer amerikanischen Hilfsorganisation nicht nur der Erfahrungsbericht dieser Kronzeugin erschienen, sondern vor vier Tagen auch der Vorwurf, ein Hildesheimer sei gar nicht vernommen worden. Diese Behauptung steht im Widerspruch zu dem, was Staatsanwalt, der heutige Leiter der Diakonie in Himmelsthür und der für die Ermittlungen zuständige Kripobeamte sagen.

Dieses ehemalige Heimkind hat bis heute auf Nachfragen meinerseits nicht reagiert, Staatsanwalt, Diakonie-Leiter und Kripobeamter kennen die Geschichte dieses Leidgeprüften. Woher?

Zudem geht aus dem Bericht nicht hervor, was dieser Hildesheimer zur Aufklärung des angeblichen Mordes beitragen könnte. Im Ermittlungs-Raum steht allerdings immer noch ein Hinweis vom Niederrhein. Demnach gibt es ein ehemaliges männliches Heimkind, das mehr weiß. Doch an diesen „Rübezahl“-Informanten kommt bislang niemand heran, obwohl Staatsanwalt und Kripo großes Interesse an seiner Aussage bekundet haben.

Freitag, 1. Mai 2009

Holzen - Teil 1

8. November 2008
Ehemalige Heimkinder müssen eine Sprache finden

"Ich fände es prima, wenn wir eine Sprache fänden für all das, was wir als Kinder erleben mussten", schreibt ein ehemaliges Heimkind in einem Forum. Der erste Eintrag stammt vom 10. September 2008. Seitdem erfahren immer mehr Ehemalige: "...und es gab es doch, das Heim Rübezahl in Holzen."

Holzen ist ein 700-Seelen-Dorf in der Samtgemeinde Eschershausen. Das Ortswappen zieren ein schwarzer, silbern gebördelter Dreiberg mit gekreuztem Hammer und Schlägel, darauf steht eine grüne Buche. Symbolisiert werden so der für Holzen wichtige Asphaltbergbau und die ebenso wichtige Landwirtschaft.

In der Landwirtschaft gearbeitet hat auch Herbert Schlotter, bevor er in den Bergbau wechselte. Der in Schlesien geborene 78-Jährige trat 1979 in die SPD ein und war von 1981 bis 2001 Bürgermeister des Ortes. Das kam so: "Man hat mich gefragt, und ich habe es gemacht." Kürzlich ist er wieder gefragt worden. Dieses Mal nicht von seinen Genossinnen und Genossen, dieses Mal von der Kripo aus Holzminden. "Das Gespräch hat einige Stunden gedauert", sagt er.

Dabei ging es um ein Kinderheim, das von 1955 bis 1972 auf dem Greitberg existierte. In der 320-seitigen Dorfchronik, die Herbert Schlotter mit anderen 2004 zum 1000-jährigen Bestehen von Holzen veröffentlicht hat, wurden dem Heim Rübezahl sechs Absätze gewidmet. Das ist erstaunlich wenig, denn die Geschichte dieses Lagers kann als spannend gelten. Etwas mehr erzählte der Chronist Detlef Creydt aus Holzminden im vierten Band von "Zwangsarbeit für Industrie und Rüstung im Hils 1943 bis 1945".

Wir erfahren: Anfang August 1944 baute die Hitlerjugend aus Eschershausen auf dem Greitberg ein Zeltlager auf. Untergebracht wurden dort Häftlinge, die auf den Wiesen Baracken errichteten. Später wurde das Lager eingezäunt und der Draht unter Starkstrom gesetzt. Fertig war das Zuchthauslager Holzen als Außenstelle von Hameln und Celle.

Holzen Teil 2



Schranke vor dem ehemaligen Heimgelände. Foto: Tjaden


9. November 2008
Missbrauch und Morde in Kinderheim?

"Später wohnten dort die Letten", erinnert sich der ehemalige Bürgermeister und Chronist Herbert Schlotter. Damit gemeint sind aus Lettland vertriebene Deutsche. 40 waren es vom 1. Mai bis 1. August 1946. Im Mai 1947 wurde das Lager wieder aufgelöst. Plünderer stahlen, was nicht niet- und nagelfest war. Dann übernahm die Innere Mission das Lager und brachte dort 17- bis 24-Jährige unter, die an der so genannten "Zonengrenze" aufgegriffen worden waren. 23 wohnten schließlich auf dem Greitberg, sie brachten die Baracken wieder in Schuss, unterstützt wurden sie von einer Quäkerin mit Kleiderspenden. Der Strom kam von einem Stollen, die Wasserleitung bauten die 17- bis 24-Jährigen selbst.

1955 zogen "gefallene Mädchen" in das Lager ein. Mit ihnen kamen junge Männer auf Motorrädern. "Wir wussten gar nicht, woher die alle waren", denkt Herbert Schlotter an diese Episode zurück. Doch schon bald knatterten keine Motorräder mehr durch das Dorf und den Greitberg hinauf, denn - so der ehemalige Bürgermeister: "Diese Prostituierten waren schnell wieder weg" und aus dem Lager "Rübezahl" wurde ein Kinderheim, in dem Grausames geschehen sein soll.

"Dort war es auch nicht schlimmer als zu der Zeit in anderen Heimen", sagt zwar der 78-Jährige, aber in einem Strafantrag, der am 13. April 2008 gestellt worden ist, steht: "Es gibt eine ausgewanderte Augenzeugin und weitere Zeugen, die über Misshandlungen mit Todesfolge aussagen können." Im nächsten Absatz wird es konkreter: "Es wurde berichtet, dass Soldaten in der Zeit von 1956 bis 1963 nachts in die Schlafzimmer kamen, um sich an den Heimkindern sexuell zu befriedigen. Ein Zeitzeuge berichtet von einem gefesselten Kleinkind mit blutigem Po. Die getöteten Kinder sollen in die Munitionsbunker geworfen worden sein."

Kinderleichen soll es auch hinter dem Gasthaus "Roter Fuchs" geben. Dieses Ausflugslokal steht oben auf dem Greitberg. An diesem frühen Nachmittag sitzt nur ein Gast an der Theke. Der 80-Jährige hat finanzielle Sorgen: "Die Bank hat mir nur die Hälfte gegeben. Andreas verwaltet mein Geld. Das kann der doch nicht machen. Ich gehe zum Anwalt."

"Das ist eine sehr gute Idee", sagt der Wirt und kommt an meinen Tisch. Er nimmt meine Bestellung auf und beantwortet meine Frage nach dem ehemaligen Kinderheim "Rübezahl" ohne eine Sekunde des Nachdenkens: "Das sind von hier nur wenige Meter den Berg hinunter. Dort gibt es eine Schranke. Es sind aber nur noch die Fundamente vorhanden."

Holzen Teil 3

10. November 2008
Immer Rauschen in den Ohren

Der 80-Jährige sitzt in Hörweite, reagiert aber nicht, als ich auch ihn nach dem Kinderheim frage.

„Ich habe immer so ein Rauschen in den Ohren“, sagt er.

Wie ein ganzes Dorf, als es auf dem Greitberg ein Zuchthauslager gegeben hat?

„Die Behandlung der Insassen soll unmenschlich gewesen sein“, berichtet der Holzmindener Chronist Detlef Creydt. Einige Aufseher hätten sich brutale Strafen einfallen lassen: Den Kopf eines Häftlings zwischen Spind und Spindtür einquetschen, bis das Nasenbein bricht beispielsweise.

Das hat man im Dorf gewusst, so mancher steckte den Häftlingen unter Tage Brot zu, ein Aufseher versteckte Nahrungsmittel in einem Erdloch. Doch das Schlimmste konnte niemand verhindern: In dem Lager starben 32 Männer.

„Der Boden ist von Blut getränkt“, sagt ein Stuttgarter, der im Kinderheim „Rübezahl“ aufgewachsen ist. Es soll auch zwischen 1955 und 1972 geflossen sein. Auch ein ehemaliges Heimkind aus Darmstadt erinnert sich an „Gewalt und Demütigung“. Niemand habe sich darum gekümmert, „weghören und wegsehen“ gehöre wohl zur Tradition von Holzen.

„Wir waren isoliert“, sagt ein weiteres Heimkind aus der Region Hannover. Den Weg zur Schule legten die Heimkinder zu Fuß zurück, fünf Kilometer den Greitberg herunter, immer an der Straße entlang, bei Regen wurden sie so nass, dass ihre Klamotten während des Unterrichts getrocknet werden mussten.

„Das ging irgendwann nicht mehr so weiter“, sagt der ehemalige Bürgermeister Herbert Schlotter. Aber „isoliert“ sei das falsche Wort, denn: „Einmal im Jahr haben die Dorfkinder und die Heimkinder ein Schulfest gefeiert. Das fand auf dem Greitberg statt.“

Der Wirt des Gasthauses „Roter Fuchs“ berichtet sogar, dass er mit einem ehemaligen Heimkind in einem Nachbarort Fußball gespielt habe. Auch an den Namen erinnert er sich und fügt hinzu: „Der wohnt jetzt in Hildesheim.“

Manchmal sind Heimkinder, die nach der Schule keine Umwege machen durften, zu diesem Gasthaus gewandert. Der Wirt hatte Windbeutel für sie. Erfuhr die Heimleitung davon, soll es nach Angaben eines ehemaligen Heimkindes „Prügel ohne Ende“ gegeben haben.

Holzen Teil 4

20. Dezember 2008
Kann nie wieder gut gemacht werden

Daran möchte auch ein vierfacher Familienvater aus der Region Hannover nicht erinnert werden: „Wenn ich über meine Heimerfahrungen berichten würde, würde das alte Wunden wieder aufreißen.“ Auch seine Kinder wüssten nichts über seine Vergangenheit. Das solle so bleiben. Außerdem: „Ich erwarte keine finanzielle Entschädigung. Von der evangelischen Kirche will ich kein Geld. Was die uns als Kinder angetan haben, können die nie wieder gut machen.“

Die Wahrheit muss erzählt werden, meint dagegen der Dorfchronist Detlef Creydt. Auch er hat bereits Besuch von der Kripo aus seiner Heimatstadt bekommen und Herbert Schlotter, ehemals Bürgermeister des 700-Seelen-Dorfes Holzen, sagt zum Abschied: „Wenn Sie etwas herausfinden, dann geben Sie mir bitte Bescheid.“

Die Geschichte von den Kinderleichen nur haarsträubend findet Dr. Seliger, der in der Holzmindener Stadtbibliothek arbeitet und im ersten Stock ein kleines Büro hat: „Vielleicht gibt es auf dem Greitberg auch noch einen Tunnel...“ Den wohl nicht, dafür im 20 Kilometer langen Höhenzug Ith aber mehr als 20 Höhlen.

Dort sind immer neue Funde gemacht worden. 1988 wurde in der so genannten „Kinderhöhle“ ein zertrümmerter Schädel entdeckt. Er stammte von einem Vierjährigen. Dieses Geheimnis wurde aber schon im 19. Jahrhundert gelüftet: Prähistorische Menschen hatten in Höhlen Feinde verspeist, immer wieder gab es deswegen Knochenreste, die ans Tageslicht geholt wurden.

Solche Geschichten haben möglicherweise die Fantasie eines Heimkindes angeregt - als Erwachsene konnte sie schließlich Dichtung und Wahrheit nicht mehr auseinander halten? Gleichwohl: Die Kripo in Holzminden und die Staatsanwaltschaft in Hildesheim haben den Strafantrag noch nicht zu den Akten gelegt. Seit Juni 2008 gilt: „Zurzeit werden polizeiliche Vorermittlungen geführt.“ (Az.
NZS 17 AR 17182/08)

Noch einmal nach Holzen und auf den Greitberg: 1968 ist der Heimleitung die Kündigung des Pachtvertrages auf den Schreibtisch geflattert. 1972 zog die Innere Mission mit rund 50 Kindern ins Haus Harderode um. Den Spitznamen für eine der Heimleiterinnen nahm sie mit. Er lautete: „die Teufelin“.

Dann meldet sich wieder ein ehemaliges Heimkind. Wieder: Berichte über schwere Misshandlungen - und das gefesselte Kleinkind mit blutigem Po bekommt einen Namen: Jürgen.

Holzen Teil 5

Staatsanwaltschaft Hildesheim
Herrn Staatsanwalt Scholz
Postfach 101264


31112 Hildesheim

21. Dezember 2008
Az. NZS 17 AR 17182/08

Sehr geehrter Herr Scholz,

Ihnen liegt eine Strafanzeige vom 13. April 2008 gegen eine ehemalige Leiterin des Kinderheimes „Rübezahl“ (1955 bis 1972) in Holzen vor. Dabei geht es um den Tatvorwurf Mord.

Bislang habe ich starke Zweifel an der Mordtheorie gehegt. Wie Sie wissen, bin ich als Redakteur in Holzen gewesen, habe mich dort umgeschaut und sprach mit Zeitzeugen. Dazu gehörte der ehemalige Bürgermeister Herbert Schlotter (1981 bis 2001).

Was er mir berichtete, hielt ich u. a. so fest: „1955 zogen ´gefallene Mädchen´ in das Lager ein. Mit ihnen kamen junge Männer auf Motorrädern. ´Wir wussten gar nicht, woher die alle waren´, denkt Herbert Schlotter an diese Episode zurück. Doch schon bald knatterten keine Motorräder mehr durch das Dorf und den Greitberg hinauf, denn - so der ehemalige Bürgermeister: ´Diese Prostituierten waren schnell wieder weg´ und aus dem Lager ´Rübezahl´ wurde ein Kinderheim, in dem Grausames geschehen sein soll.“

Diese Zeilen schrieb ich kurz nach dem Gespräch mit dem ehemaligen Bürgermeister, genau gesagt am 9. November 2008. Seitdem sind sechs Wochen ins Land gegangen und nun taucht ein ehemaliges Heimkind auf, das folgende Aussage macht: „Dann waren da immer die englischen Soldaten. Sie kamen auf Motorrädern, Jeeps und manchmal Autos. Wir Kinder hatten alle Angst vor denen. Diese Soldaten misshandelten uns Kinder sexuell.“ (Den Erfahrungsbericht füge ich meinem Schreiben bei.)

Das ehemalige Heimkind heißt Carola Thompson und wohnt heute in den USA. Nach ihren Angaben ist sie 1956 in das Kinderheim „Rübezahl“ gekommen. Damals sei sie sechs Wochen alt gewesen.

In ihrem Bericht macht Carola Thompson bestimmte schreckliche Ereignisse an ihrem Lebensalter fest. So berichtet sie von einem Selbstmordversuch als Fünfjährige. Die „englischen Soldaten“ tauchen erst später in ihrem Bericht auf.

Festzuhalten bleibt also: Herbert Schlotter berichtet von jungen Männern auf Motorrädern im Jahre 1955, das ehemalige Heimkind von „englischen Soldaten auf Motorrädern“ um 1960 herum, denn als Säugling kann sie 1956 solche Szenen noch nicht gespeichert haben.

Der ehemalige Bürgermeister von Holzen hat mich gebeten, ihn auf dem Laufenden zu halten. Deshalb hat auch er heute per Post diesen Bericht von Carola Thompson von mir bekommen. Die Anschrift des ehemaligen Heimkindes kennen Sie bereits.

Mail von Carola Thompson

Diese Nachricht habe ich am 28. Dezember 2008 von dem ehemaligen Heimkind bekommen: "Herr Tjaden
ich habe nicht das Beduerfniss mit Ihnen oder anderen Medien, ueber Holzen zu korrespondieren.

C.Thompson"

Holzen Teil 6

10. Februar 2009
Nach knapp 10 Monaten wird die Akte geschlossen

„Für weitere Hinweise wäre ich sehr dankbar“, sagt der Hildesheimer Staatsanwalt Scholz, zurzeit aber habe er nur diese Möglichkeit: Die Akte Kinderheim „Rübezahl“ in Holzen bei Holzminden wird geschlossen, das Ermittlungsverfahren wegen Ermordung eines Kleinkindes in den 1950er-Jahren eingestellt. Die Vernehmung und Befragung ehemaliger Heimkinder habe keinen dringenden Tatverdacht ergeben.

Strafanzeige erstattete am 13. April 2008 Hermine Schneider vom Heimkinderverband, die in einem anderen kirchlichen Heim eine schlimme Kindheit verbracht hat. Auch im Kinderheim „Rübezahl“ sind Prügel, Missbrauch und Demütigungen an der Tagesordnung gewesen. Daran zweifelt auch Staatsanwalt Scholz kaum. Diese Straftaten allerdings sind verjährt. „Es geht nur noch um Mord. Nur Mord ist noch nicht verjährt“, sagt er. So stehe es im Strafgesetzbuch.

Trägerin des Kinderheimes war die Innere Mission der evangelisch-lutherischen Landeskirche. Die wechselte seinerzeit zwar hin und wieder die Leiterin aus, aber besser ist es für die Heimkinder nach ihren Aussagen nicht geworden. „Schwarze Pädagogik“ ist auch aus dieser Einrichtung nie verschwunden.

Bleibt nur noch festzuhalten: Es soll einen weiteren Zeugen geben, der bisher noch nicht befragt worden ist, weil weder die Hildesheimer Staatsanwaltschaft noch der Verfasser dieser Zeilen seinen Namen kennen. Falls sich daran etwas ändern sollte, verspricht Scholz: „Dann ermitteln wir weiter.“

Holzen Teil 7

1. Mai 2009
Hat ehemaliges Heimkind Roten Durchfall mit Blut verwechselt?

„Da war das große Krankenbett mit dem kleinen Jungen Jürgen. Jürgen lag leblos und nackt und mit beiden Händen über dem Kopf ans Bett gefesselt. Sein linkes Bein war ans Fußteil des Bettes gebunden, nur das rechte Bein lag angewinkelt. Ich guckte ihn mir an und dann sah ich das viele Blut, das von seinem Po zu kommen schien. Die Blut-Lache war groß, von seinen Hüften bis zum Knie und auf der Seite des Bettes. Ich war starr vor Schreck.“

Das erzählt auf einer amerikanischen Internetseite immer noch ein ehemaliges Heimkind, das 1956 im Alter von sechs Wochen in das Kinderheim „Rübezahl“ gebracht worden ist und dort bis 1963 blieb. Diese Schilderung schreckte die evangelische Kirche als damalige Trägerin der Einrichtung in Holzen (Landkreis Holzminden) auf, deswegen ermittelte die Hildesheimer Staatsanwalt, die Kripo von Holzminden befragte Zeitzeugen. Doch erhärtet werden konnte der Verdacht nicht, dass im Kinderheim „Rübezahl“ dieser Junge und möglicherweise auch noch andere Kinder auf gewaltsame Weise ums Leben gekommen sind.

Die Ermittlungen seien mit großer Sorgfalt und hohem Zeitaufwand geführt worden, berichtet ein Kripobeamter aus Holzminden. Einfach hätten es sich die Ermittler nicht gemacht, immer wieder habe es Probleme gegeben: Einige ehemalige Heimkinder waren zur Zusammenarbeit nicht bereit, so manche schlimme Geschichte beruhte auf Hörensagen, wurden Aussagen miteinander verglichen, kam es zu Ungereimtheiten. Aber - eine Geschichte sei von mehreren Zeugen unabhängig voneinander und ohne direkte Nachfrage erzählt worden: Eines Tages gab es im Kinderheim „Rübezahl“ Rote Beete. Viele Kinder bekamen davon Durchfall. Und: Der sei rot gewesen.

Hat also jene Belastungszeugin, die auf den amerikanischen Internetseiten ein Schreckenszenario entwickelt, als kleines Mädchen Blut mit rotem Durchfall verwechselt? Doch: Es soll immer noch einen Augenzeugen geben. Der aber meldet sich nicht. Da spitzt auch der Kripobeamte aus Holzminden die Ohren: „Wenn es neue Hinweise geben würde, würden wir die Ermittlungen sofort wieder aufnehmen.“

Kein Zweifel: Es ist schlimm zugegangen im Kinderheim „Rübezahl“, das es von 1955 bis 1972 auf dem Greitberg gab. Daran hegen weder die Hildesheimer Staatsanwaltschaft noch die Kripo von Holzminden Zweifel. Andererseits bleibt es (noch) dabei: „Von Tötungsdelikten gehen wir nicht aus.“

Ruhe kehrt in Holzen nicht ein. In dem 700-Seelen-Dorf in der Samtgemeinde Eschershausen malen sich immer noch einige aus, was geschehen würde, wenn eines Tages jemand käme, der mehr zu sagen hätte als bisher bekannt und bewiesen ist.