Montag, 29. Dezember 2008

Schwere Aufklärungsarbeit

29. Dezember 2008
Jugendämter und Kinderheime: Schwere Aufklärungsarbeit

„Auch ich bin ein vom JuA geklautes Kind“, steht in einer weitergeleiteten Mail, die von einer Organisation mit Sitz in Paris durch die Internet-Welt gejagt wird. JuA ist die Abkürzung für Jugendamt. Mitgeteilt wird außerdem: „Vor genau 2 Jahren, zwischen Weihnachten und Neujahr 2006, starteten wir mit der ersten Runde gegen das familienzerstörerische und ausländerfeindliche Verhalten einiger weniger Deutschen, die in den Ministerien und in den Familiengerichten der Bundesrepublik sitzen, mit der Petition der 10 Eltern.“ Inzwischen sei die dritte Runde eingeläutet, das Europäische Parlament werde sich mit dem Thema beschäftigen. Das stimmt: Dem Petitionsausschuss dieses Parlaments liegen um die 200 Eingaben von Eltern und Heimkindern vor, in denen deutschen Jugendämtern Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden.

Die Organisation, die sich zurzeit derart ins Internet-Zeug legt, heißt Ceed. Sie vertritt nach ihren Angaben Großeltern, Eltern und Kinder, die Opfer von „amtlichen Kindesentführungen“ geworden sind - und schon vermisst man als Kenner der Szene wichtige Informationen. Denn: Veröffentlicht werden auf den Internetseiten dieser Organisation zwei „detaillierte Erfahrungsberichte“. Einer dieser Berichte stammt von einem 56-jährigen Südafrikaner, der seit 1995 um seine beiden Kinder kämpft, die angeblich von der deutschen Mutter zu einem ihm damals unbekannten Ort in Wilhelmshaven (Niedersachsen) entführt worden sind. Eine aktive Rolle sollen dabei die ebenfalls an der Nordsee lebenden Großeltern gespielt haben.

Mit dieser Entführungsgeschichte hat dieser Südafrikaner anfangs in Deutschland öffentliche Aufmerksamkeit erregt, seine Forderungen stießen durchaus auf Sympathie. Bis die Aktionen des 56-Jährigen aus dem Ruder liefen. Mit dem Jahr 2002 ist seine Geschichte auf den Ceed-Seiten beendet, doch zu Ende ist sie immer noch nicht.

Spätestens zwei Jahre darauf startete der Südafrikaner eine Mail-Kampagne. Jede für ihn erreichbare Internet-Adresse wurde mit wüsten Beschimpfungen von Lokalpolitikern, Anwälten, Jugendamtsmitarbeitern und Familienrichtern aus Wilhelmshaven zugepflastert. Die Frage, warum kein Betroffener dagegen strafrechtlich vorging, beantwortete ein Sprecher der Kripo eher achselzuckend: „Der ist doch wahrscheinlich inzwischen in Neuseeland. Außerdem hat er etwas erreicht. Es nimmt ihn niemand mehr ernst.“

Das muss auch dem 56-Jährigen inzwischen klar sein. Wohl deshalb hat er sich in den folgenden Jahren gefälschter Mail-Adressen bedient, um weiter Gehör zu finden. Fand er aber nicht. In einem Gutachten war ihm mittlerweile bescheinigt worden: „Die paranoide Entwicklung von Herrn H. scheint so weit fortgeschritten, dass die Einräumung eines Umgangsrechtes mit seinen beiden Kindern nicht mehr dem Wohl der Kinder dienen dürfte.“ Aus diesem Grund verlor der 56-Jährige am 23. Juli 2004 vorerst das letzte Mal vor dem Wilhelmshavener Familiengericht. Dagegen setzte sich der Südafrikaner auf privaten Internet-Seiten noch einigermaßen sachlich zur Wehr. Dann drehte er durch.

Doch irgendwie ist ihm das wohl noch nicht bewusst, muss man aus seinem Telefonanruf aus Südafrika schließen: „Bei uns darf man falsche e-mail-Adressen verwenden.“ Unter Paranoia leide er keinesfalls, versichert er dem Verfasser dieser Zeilen, der Gutachter, der ihm diese Geisteskrankheit bescheinigt habe, habe ihn nie zu Gesicht bekommen. Das stimmt: H. ist nicht hingegangen und gab ein Gegengutachten in Auftrag. Das Ergebnis: Der 56-Jährige ist zwar gesundheitlich mitgenommen, aber der Umgang mit seinen beiden Söhnen würde dem Kindeswohl dienen. Dringend geprüft werden müsse, wie man den familiären Scherbenhaufen noch kitten könne.

Dann plaudert H. bei seinem Telefonanruf munter über Land und Leute, erzählt von seinem 19-jährigen Sohn, der ihn kürzlich in Südafrika besucht habe, und wechselt zu seinen Schlafgewohnheiten: „Ich habe immer eine Schrotflinte und andere Waffen neben dem Bett liegen.“ So schütze er sich vor einem möglichen Mordauftrag aus Wilhelmshaven. Wie abenteuerlich das klingt, ist H. offenbar ebenfalls nicht bewusst.
Immerhin: Nach einigem Zögern will er eine Kontaktaufnahme mit seinem 19-jährigen Sohn ermöglichen.

In welcher Zwickmühle Familienrichter stecken, wenn sie über die Zukunft von Kindern entscheiden müssen, die in einer Familie leben, in der jeder gegen jeden kämpft, lässt sich unschwer erahnen. Manchmal wird zu viel Porzellan zerschlagen.

In ähnlicher Gefahr schwebt wohl ein ehemaliges Heimkind, das 1991 in die USA ausgewandert ist und sich als 43-Jährige ihre Erlebnisse von der Seele schrieb. Sie gründete drüben eine Hilfsorganisation und richtete ebenfalls Internet-Seiten ein, auf denen jüngst eine 52-Jährige über ihre Kindheit berichtete. Wenn sie an das Heim denke, in dem sie ab 1956 gelebt habe, falle ihr zuerst „Folter“ ein, schreibt sie. Der Name dieser Frau taucht auch in der eingangs erwähnten weitergeleiteten mail von Ceed auf, er wird außerdem im Zusammenhang mit einer Strafanzeige genannt, die am 13. April 2008 von einer deutschen Hilfsorganisation bei der Staatsanwaltschaft Hildesheim erstattet worden ist. Der Tatvorwurf lautet: Mord.

Es geht um das ehemalige Kinderheim „Rübezahl“ in Holzen (1955 bis 1972, Landkreis Holzminden). Das zweifelsfreie Ergebnis von Recherchen: In diesem Heim ist es zu schweren Misshandlungen gekommen. Aber Mord? Darüber werde „Frontal 21“ demnächst berichten, hat vor zwei Monaten die 1991 in die USA Ausgewanderte in Mails behauptet. Das Magazin habe sich die Exklusivrechte gesichert, mehr dürfe sie noch nicht verraten. Doch eine Nachfrage bei dem Sender ergab: „Von diesem Heim haben wir noch nie etwas gehört.“

Der zuständige Hildesheimer Staatsanwalt beklagt sich derweil darüber, dass er weder aus den USA noch von der deutschen Hilfsorganisation erhärtendes Material bekomme, die 52-Jährige, die im Internet über derart Grauenhaftes wie „Ein Kind fiel in eine Mistgrube und die Erzieherinnen ließen es untergehen, ohne Hilfe zu leisten“, hat auf eine Bitte um Aufklärung so reagiert: „Ich habe nicht das Bedürfnis, mit Medien über Holzen zu korrespondieren.“ Ein ähnliches Verhalten legt sie offenbar gegenüber der Staatsanwaltschaft in Hildesheim an den Tag, über „polizeiliche Vorermittlungen“ wird das Ermittlungsverfahren deshalb wohl kaum hinauskommen. Und schon erscheint die Geschichte in einem neuen Licht: Der Tatvorwurf Mord stammt gar nicht von dieser 52-Jährigen, er stammt aus einer anderen Quelle. Aber aus welcher? Das herauszufinden, ist nun die nächste Aufgabe.

Ergo: Da veranlasst eine in die USA Ausgewanderte eine deutsche Hilfsorganisation zu einer Strafanzeige, anschließend veröffentlicht sie einen schrecklichen Internet-Bericht über das Kinderheim „Rübezahl“ - und der Rest wird die vierte Stufe, über die auch Eltern im Petitionsausschuss des Europäischen Parlamentes stolpern, die gern sachlich bleiben würden? Die Spreu vom Weizen trennen, wird eine schwere Aufgabe für diesen Ausschuss. Die Betroffene etwas leichter gestalten könnten, so auch der Südafrikaner H. Erinnert sei an das Sprichwort „Der Ton macht die Musik.“